Arbeiten als lettische Pflegekraft in Deutschland oder Österreich

Seit dem 1. Mai 2011 dürfen die 7 Jahre zuvor der EU beigetretenen Letten EU-weit arbeiten; also auch in Deutschland oder Österreich. Gerade im Bereich der häuslichen Betreuung fehlt es in beiden Ländern an Fachkräften. Da liegt es nahe, dass sich die krisengeplagten Letten auf den Weg gen Westen machen. Besonders für Frauen, die entweder arbeitslos sind oder mit der Rückzahlung eines hohen Kredites zu kämpfen haben, ist die Möglichkeit, im Ausland als Pflegekraft zu arbeiten, eine interessante Alternative. Firmen, die Pflegekräfte vermitteln, gibt es genug.
 
Für Lettinnen gibt es verschiedene Möglichkeiten, z. B. in Österreich legal zu arbeiten. Man kann ein Gewerbe anmelden und selbständig arbeiten. Das ist wegen der bürokratischen Formalitäten nicht ganz einfach. Eine andere Möglichkeit ist, sich bei einer Familie, die eine Pflegekraft benötigt, fest anstellen zu lassen. Die von den meisten Frauen gewählte Variante entspricht aber dem Entsendemodell: Die Pflegerin / Haushaltshilfe ist bei einer ausländischen Firma unter Vertrag und wird zum Arbeiten nach Österreich geschickt. Die Firma vermittelt Pflegekräften offene Pflegestellen und erledigt alle Formalitäten. Dafür wird eine Gebühr von ca. 200 Euro verlangt, die aber erst in Rechnung gestellt wird, wenn der Arbeitnehmer sein erstes Gehalt bekommen hat.
 
Wer jetzt denkt, dass es um geschultes Fachpersonal oder gar ausgebildete Krankenschwestern geht, liegt teilweise falsch. Ein großer Teil der Pflegekräfte hat vorher als Buchhalterin, Verkäuferin oder in anderen Berufen – oft mit Hochschulbildung – gearbeitet. Für eine Stelle als Betreuerin von Personen, die keine medizinische Pflege benötigen, mag das ausreichen. Wie hoch der Bedarf an Pflegekräften ist, kann man daran erkennen, dass auch Lettinnen, die nur ein paar dürftige Brocken Deutsch sprechen, nach Österreich oder Deutschland geschickt werden.
 
In der Regel liegt folgendes Arbeitsmodell zu Grunde: Die Pflegekraft lebt in einer Familie, arbeitet drei Monate am Stück (natürlich gibt es Pausen und freie Nachmittage) und hat dann einen Monat frei. Die Bezahlung liegt etwa bei 1000 Euro / Monat. Wenn man bedenkt, dass Kost und Logis frei sind, ist das eine ordentliche Summe. Dafür sind die Frauen 3 Monate von Familie und Freunden getrennt.
 
Oft hört man Klagen darüber, dass so viele Letten ihr Land verlassen. Man sollte sich die Frage stellen, ob es nicht besser ist, im Ausland Geld zu verdienen und damit die Familie in der Heimat zu unterstützen, als arbeitslos zu Hause zu sitzen. So lange es in Lettland nicht genug Arbeitsplätze gibt, werden weiterhin viele Letten ihr Glück im Westen suchen (müssen).
 
In einem Interview mit Olita aus Smiltene, die im Herbst letzten Jahres nach Österreich gegangen ist, habe ich sie gefragt, wie es ihr in Österreich geht und aus welchen Gründen sie nicht in ihrer Heimat arbeitet:
 
 
Warum hast du dich entschieden, im Ausland zu arbeiten?
 
Ich habe 28 Jahre bei einer der größten Banken in Lettland gearbeitet. Mehrmals wurde ich zur Mitarbeiterin des Monats gewählt, durfte nach Stockholm und nach Helsinki reisen. Ich ging davon aus, dass ich bis zur Rente bei „meiner“ Bank arbeiten würde. Leider sieht die Realität anders aus. Schon im Jahre 1994 begann man, die älteren Arbeitnehmer zu entlassen. In meiner Filiale wurden diejenigen, die älter als 50 Jahre waren, plötzlich nicht mehr gebraucht. Im letzten Jahr traf es auch mich. Das war sehr schmerzhaft. Nach einem halben Jahr Arbeitssuche und vielen erfolglosen Bewerbungen war mir klar, dass ich in Lettland auf dem Arbeitsmarkt keine Chancen mehr habe. Eine Arbeitsstelle in meiner Heimatstadt Smiltene zu finden, ist in diesem Alter fast unmöglich.
 
Wie hast du von der Möglichkeit, als Pflegekraft in Österreich zu arbeiten, erfahren?
Ich habe im Sozialen Netzwerk draugiem.lv eine Anzeige aufgegeben und gefragt, ob jemand helfen kann, Arbeit in Deutschland, Österreich oder England zu finden. Warum diese Länder? Ich mag die Mentalität der Deutschen und Österreicher, die Volksmusik und die Berge. In England leben meine Cousins und ich habe Englisch in der Schule gelernt. Es meldete sich eine Frau bei mir, die bereits über eine Agentur Arbeit in Österreich gefunden hatte und sehr zufrieden ist. Ich füllte das Anmeldungsformular der Agentur aus, suchte mir eine Deutschlehrerin und begann die Sprache zu lernen. Bisher sprach ich nämlich kein Wort Deutsch.
 
Wann bist du nach Österreich gekommen?
Nach nur 17 Unterrichtsstunden flog ich Mitte September von Riga über Wien nach Graz. Das Umsteigen in Wien mit nur minimalen Sprachkenntnissen war mehr als aufregend. Dafür entschädigte beim Anflug auf Graz der Blick auf die ersten verschneiten Berggipfel. Dann musste ich mit dem Zug weiterfahren. Eine Fahrkarte kaufen? Zone auswählen, die richtigen Tasten drücken? Unmöglich, wenn man nur einige Stunden Deutsch gelernt hat. Es reichte aber, um einen Passanten um Hilfe zu bitten. Trotz geringer Sprachkenntnisse saß ich kurze Zeit später im richtigen Zug und war zu Recht stolz auf mich. Eine Agenturmitarbeiterin holte mich am Zielbahnhof ab und brachte mich direkt zu meinem neuen Arbeitsplatz.
 
Wie war dein erster Eindruck?
Ich wurde von der bisherigen Pflegekraft und der Schwiegertochter meines zukünftigen Arbeitgebers erwartet. Die Aufregung war groß und ich begann mich zu fragen, was ich hier eigentlich mache. Sogleich bekam ich meine Aufgaben erklärt. Ich betreue einen 88 Jahre alten Mann, der alleine in einem großen Haus lebt. Im Nachbarhaus wohnt sein Sohn mit Familie. Sie sind Winzer und betreiben eine Weinstube Die ganze Familie ist überaus freundlich und hat mich mit offenen Armen empfangen. So langsam geht mir auf, warum mich meine Deutschlehrerin immer vor dem Dialekt warnte. Hier, in der Steiermark, verstehe ich so gut wie nichts. Schade. Bei den ersten Kommunikationsversuchen scheitere ich kläglich und vermische die wenigen deutschen Wörter mit Englisch. Gut, dass die jungen Leute Englisch sprechen. Ich bekomme erklärt, was meine Aufgaben sind:
 
  • Essen machen (im Gegensatz zu Lettland wird nur Mittags gekocht; zum Frühstück und Abend gibt es Brot)
  •  Kleidung waschen und bügeln
  • mit „Opa“ spazieren gehen
  • sonstige Hausarbeiten
 
Die Arbeit fällt mir nicht schwer, ist es doch das gleiche, was jede Frau zu Hause auch machen muss. Nur, dass ich jetzt dafür bezahlt werde.
 
Wie hast du dich eingelebt?
Da ich meine Aufgaben recht schnell erledigen kann und nicht herumsitzen mag, habe ich recht schnell andere kleine Arbeiten übernommen, z.B. Gartenarbeit oder kleine Reparaturen. Ich wurde herzlich in der Familie aufgenommen und bringe mich ein, wo immer es geht. Kleine Reparaturen, Gartenarbeit – kein Problem für mich. Ich freue mich, wenn ich etwas Sinnvolles machen kann.
 
Welche Fortschritte machen deine Sprachkenntnisse?
Jetzt, nach 7 Monaten in Österreich, kann ich sagen, dass ich gut integriert bin. Mit meinen Arbeitgebern habe ich eine „gemeinsame Sprache“ gefunden, wir können uns verständigen. Ich habe mich so gut eingelebt, dass ich mich schon wie ein Familienmitglied fühle. Ich bin dankbar, dass ich trotz schwacher Deutschkenntnisse so nett aufgenommen wurde. Dafür, dass ich bis vor 10 Monaten noch kein Wort Deutsch gesprochen habe, geht es schon ganz gut. Am Anfang dachte ich, dass ich gar nicht zurecht kommen würde.  Der Dialekt klingt für mich sehr kompliziert. Da ich aber offen auf alle Leute zugehe, fällt mir die Kommunikation immer leichter. Natürlich lerne ich auch weiterhin Deutsch, kämpfe mit der Grammatik und neuen Wörtern.
 
Wann willst du wieder nach Lettland zurückkehren?
Das weiß ich noch nicht. Solange ich hier gut verdienen kann und das Gefühl habe, gebraucht zu werden, nutze ich diese Möglichkeit. Natürlich wäre ich lieber in meiner Heimat bei meiner Familie. Aber ohne Arbeit ist das leider nicht möglich.
 
Soweit Olitas Erfahrungen.
 
Die Schwäche einiger westlicher EU-Mitglieder, für ihre Pflegebedürftigen zu sorgen, bescherte ihr, die unverschuldet ihre Arbeit verlor, einen neuen Arbeitsplatz. Die von den Rechten vor 2004 vorausgesagte Überschwemmung des Arbeitsmarktes mit Billigpersonal aus den neuen EU-Ländern Osteuropas ist nicht eingetreten. Das Gegenteil ist der Fall: Deutschland und Österreich sind froh darüber, dass einige von ihnen kommen.